Wenn es um die Gleichstellung von Frauen und Männern geht, konnten in den letzten Jahrzehnten beachtliche Fortschritte verzeichnet werden. Doch im Bereich der Medizin sieht das anders aus – denn das deutsche Gesundheitswesen orientiert sich nach wie vor am Standard-Mann. Tatsächlich kann die gleiche Behandlung der Geschlechter in der Medizin jedoch insbesondere für Frauen gravierende gesundheitliche Folgen haben, was sich auch in der Zahnmedizin zeigt.
Ich wünsche mir, dass mehr Zahnärzt:innen solche Faktoren in Betracht ziehen und somit zur Prävention weit verbreiteter Krankheiten beitragen können.
Dr. Claudia Kanitz
Auch in der Zahnmedizin werden geschlechtsspezifische Unterschiede deutlich. So sind Frauen beispielsweise anfälliger für Karies, da sie aufgrund hormoneller Faktoren weniger Speichel bilden, der als Schutzfaktor gegen die Erkrankung dient. Zudem können bestimmte Medikamente, die vermehrt Frauen verordnet werden, beispielsweise Antidepressiva, den Speichelfluss ebenfalls vermindern. „Ich wünsche mir, dass mehr Zahnärzt:innen solche Faktoren in Betracht ziehen und somit zur Prävention weit verbreiteter Krankheiten beitragen können“, erklärt Zahnärztin Dr. Claudia Kanitz, die seit knapp 20 Jahren eine frauengeführte Zahnarztpraxis in Hamburg leitet. Zudem stellt Osteoporose, also ein Defizit an Knochenmasse, für Dr. Kanitz einen weiteren wichtigen Risikofaktor dar. Auch hier spielt der verminderte Speichelfluss eine entscheidende Rolle: Gerade bei Frauen in der Menopause kann er zu Zungenbrennen und Geschmacksstörungen führen, was die Lebensqualität Betroffener erheblich beeinträchtigt. „Die orale Mundhöhle ist ganz oft auch ein Sichtfeld für viele Veränderungen“, erklärt Dr. Kanitz. “Daher ist es in Zahnarztpraxen wichtig, das gesamte Team für solche Themen zu sensibilisieren. Prophylaxe-Helfer:innen haben beispielsweise stets ein Auge auf die Mundschleimhaut und können mögliche Veränderungen am ehesten feststellen.” Bleiben biologische Geschlechterunterschiede in der Zahnmedizin unberücksichtigt, kann das sogar noch drastischere Konsequenzen mit sich ziehen. So sind Frauen während der Schwangerschaft aufgrund der hormonellen Veränderungen in ihren Körpern anfälliger für Zahnfleischentzündungen wie etwa Paradontitis oder Gingivitis. Solche Entzündungen in der Mundhöhle können sich negativ auf dasGeburtsgewicht von Babys auswirken – und sogar das Risiko für eine Frühgeburt erhöhen.
Gendersensible Medizin – nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Praxis
Um den schwerwiegenden Folgen des Gender Health Gaps entgegenzusteuern, ist es zunächst essentiell, die medizinische Forschung geschlechtsspezifisch zu gestalten. Hierfür muss gendersensible Medizin bereits in den Lehrplänen von Medizinstudiengängen ihren Platz finden. Die biologischen Unterschiede der Geschlechter dürfen bei der Erforschung von Ursachen, Symptomen,Behandlungen sowie der Auswirkung von Medikamenten auf keinen Fall vernachlässigt werden.Auch Ärzt:innen tragen eine Verantwortung, das Bewusstsein für diese Thematik zu steigern. So sollten sie beispielsweise entsprechende Fortbildungen wahrnehmen und sich proaktiv über geschlechtsspezifische Unterschiede informieren. Auch können sie ihre Patient:innen für das Thema sensibilisieren – etwa indem sie sie regelmäßig im Gespräch oder durch Info-Broschüren darauf aufmerksam machen. So verstehen Patient:innen auch, dass sie bei der nächsten selbstständigen Recherche von Symptomen vorwiegend auf Informationen treffen werden, die sich auf den männlichen Körper beziehen.
Fazit
Auch wenn die Gleichstellung von Frauen und Männern ein drängendes soziales Thema ist, gibt es aus biologischer Sicht wesentliche Unterschiede bei den Geschlechtern. Werden diese in der Medizin außer Acht gelassen, sind es vor allem Frauen, die die gesundheitliche Folgen tragen. Um sie vor diesen zu schützen und den Gender Health Gap abzubauen, benötigt gendersensible Medizin einen höheren Stellenwert im Gesundheitswesen, und das sowohl in den Lehrgängen der Universitäten als auch in der medizinischen Praxis. Gleichbehandlung der Geschlechter, ja – aber nicht in der Medizin.